Neue CD: Haydn Klaviertrios
C – d – e – fis: Diese vier Noten – und damit auch die Tonarten der hier eingespielten vier Klaviertrios von Joseph Haydn – formen die diatonische Ausschreitung des sogenannten Tritonus, des dissonantesten Intervalls der Musik seit Mittelalter und Renaissance. Er teilt die Oktave, das reinste Intervall und seit frühester Zeit Symbol der göttlichen Ein- und Reinheit, genau in zwei Hälften und zerstört so diese Einheit – daher auch seine Bezeichnung als Diabolus in Musica.
Haydns Musik als diabolisch zu bezeichnen, würde diese Analogie sicherlich überstrapazieren. Aber in seinem schwebenden, instabilen Auflösungsbestreben in die verschiedensten Richtungen steht der Tritonus hier für eine der ausgeprägtesten Eigenschaften der Musik Haydns: Elemente der Überraschung und der konstanten Irreführung der Erwartungshaltung der damaligen, musikalisch sehr gebildeten Hörerschaft. Oft möchte man ihm jedenfalls eine fast diabolische Freude unterstellen, seine Hörer in immer neuen Variationen Mal ums Mal ins „Bockshorn” gejagt zu haben. Gerade auf dem reinsten Gebiet der musikalischen Konversation – der Kammermusik – sticht Haydns Sinn für geistreichen Humor, für den richtigen Zeitpunkt einer unerwarteten Pointe besonders hervor. Sein unfehlbares Gespür für den momentanen Geisteszustand des Hörers, dessen Antizipation des Geschehens immer in der Schwebe gehalten wird, um ihm dann im richtigen Moment den finalen Kick zu versetzen, ist in der Musik der klassischen Wiener Klassik einzigartig.
Dennoch würde der Versuch, seine Musik auf nur diesen Aspekt zu reduzieren, selbstverständlich zu kurz greifen. Bei Haydn stehen tiefster Ernst und erhabenste, echteste Gefühle oft nahezu unvermittelt neben seinen florettartig funkelnden, geistreichen und humorvollen musikalischen Konversationen und Diskursen. Er erzählt Geschichten, deren Inhalten nachzuspüren für uns zum Reizvollsten unserer gemeinsamen interpretatorischen Arbeit gehört. Apropos Geschichten: Man weiß von Haydn, dass er sich für jedes geplante Werk vorher eine Geschichte ausdachte, diese auch aufschrieb, das inspirations- und sinnstiftende Werk dann aber nach Beendigung der Komposition vernichtete. Diese – den Interpreten und Hörern leider vorenthaltenen – Geschichten werden mit allen Feinheiten der musikalisch-rhetorischen Kunst erzählt – ein wichtiger Grund, warum l-Iaydns Musik von dem musikalischen Dreigestirn der Wiener Klassik am meisten unter dem lange Zeit vorherrschenden „romantischen Interpretationsstil zu leiden hatte. Ohne ein rhetorisches Verständnis wird die primär sprachbasierte Musik Haydns oft in zwar schöne, aber zusammenhangslose „lange Linien” gezwungen und dabei in ihrer diskursiven Sprengkraft verkannt – so entstand das verfälschende Bild des braven „Papa Haydn’. Seine Geschichten verlieren so ihren Sinn und ihre teils revolutionäre Aussagekraft. In seiner kompositorischen, stilistischen und besonders auch harmonischen Experimentierlust geht Haydn jedoch weit über das Vokabular beispielsweise Mozarts hinaus.
Die Moll-Werke überwiegen auf dieser CD. In ihnen zeigt sich am deutlichsten das oft übergangslos erscheinende Nebeneinander von innigster, ernster Aussage – meist in den Kopfsätzen und den langsamen Sätzen – und teils fast hemmungsloser Situationskomik in den ins Dur gewendeten Finalsätzen. Und trotzdem fügt sich das Ganze immer zu einer künstlerischen Einheit, die die Aussage der einzelnen Abteilungen transzendiert. Eine wichtige Ausnahme in Bezug auf die Dur-Moll-Dialektik der Finalsätze bildet das letzte Werk dieser Aufnahme, das Trio Hob.XV:26, entstanden 1795 während des zweiten Aufenthaltes des Komponisten in London. Mit der Widmungsträgerin Rebecca Schroeter, einer verwitweten Amateurpianistin, verband Haydn eine tiefe persönliche Beziehung, der auf Grund seiner bestehenden Ehe jedoch keine Zukunft beschieden war. In diesem einzigen „echten” Moll-Werk mit der vielsagenden Ausgangstonart fis-Moll versagt sich Haydn eine ins Positive gewendete Form. Die tragische Grundhaltung endet unerlöst in trotziger Resignation.
Die entscheidende Frage für uns Interpreten allerdings lautet: Wie bringt man Haydns Musik auf dem „modernen” Instrumentarium adäquat zum Klingen? Unsere heutigen, für die großen Konzertsäle optimierten Instrumente bringen einen grundlegend anderen Trioklang hervor, als Haydn bei der Komposition seiner Werke vorgeschwebt hat. (Was allerdings nicht nur für die Musik der Klassik gilt, sondern ebenso für die große Klaviertrio-Epoche der Romantik – auch Schumanns Klavier hatte beispielsweise, verglichen mit dem heutigen Konzertflügel, eine vollkommen andere Klangcharakteristik). Und dennoch sind es nach unserer Überzeugung letztendlich die Elemente der musikalischen Rhetorik, die Kunst der Artikulation und die Stilkenntnis der damaligen Aufführungspraxis, die den Inhalt und die Aussage der Haydnschen Musik auch auf heutigen Instrumenten zu entschlüsseln vermögen. Ein modernes Klaviertrio muss nicht ausschließlich „quasi-romantisch” klingen. Die Streicher können durch bewussten Einsatz des Vibratos entweder mit dem perkussiveren Klavier verschmelzen, oder sich von ihm klanglich lösen. Gemeinsam kann man sich auf die Spuren der alten Artikulationslehre begeben und das Sprechen’, das für die Musik der Wiener Klassik von so grundlegend elementarer Bedeutung ist, auch auf dem heutigen Instrumentarium wieder entdecken. Stilistische Wandlungsfähigkeit wird so zu einer spannenden Herausforderung bei der Suche nach den kompositorischen Inhalten.
Haydns Kunst ist immer zutiefst menschlich. Bei aller visionären Transzendenz steht das menschliche Schicksal in seiner Tragik und Komik gleichsam umfassenden Gesamtheit im Zentrum seiner Aussage. Den verschiedenen Erzählsträngen von Haydns Geschichten zu folgen, ihrem schier unerschöpflichen Erfindungsreichtum nachzuspüren, uns mit ihm klanglich zu verwandeln und immer wieder in die unterschiedlichsten Rollen zu schlüpfen, ist uns eine immense und stete Quelle der Freude und Inspiration.
© 2013 Martin Löhr (Trio Jean Paul)