Veröffentlichungen
Neue CD: Brahms Streichsextette op. 18 & 36
„Es war mir eine große Herzenserleichterung, daß Du nicht ganz unbefriedigt über meine Bearbeitung Deiner Sextette zu sein scheinst. Ich hab’ mir wenigstens Mühe damit gegeben, aber es ist ja immer eine heikle Sache, wenn man des Autors feine Nase im Hintergrund spürt. Du hast Dir die Correktur sehr genau angesehen, wie es scheint, und es wird mir schwer, noch Stichfehler zu entdecken. In der Partitur [der Sextette] sind mehr! Na, die Dummen müssen in 100 Jahren auch noch einen Spaß haben. Ich sollte meinen, daß diese beiden Trios den Triospielern eine willkommene Gabe sein müßten.“
Dem letzten Satz Theodor Kirchners, der sich mit diesem Brief 1883 bei Brahms für dessen ausdrückliches Lob seiner Sextettbearbeitungen bedankte, sollte bedauerlicherweise auf unsere heutige Zeit bezogen nichts Prophetisches zu eigen sein. Bis heute tauchen diese Werke allenfalls sporadisch auf den Konzertprogrammen auf. Wahrscheinlich hängt dies mit der generellen Herablassung zusammen, mit der heutzutage auf Bearbeitungen jedweder Art reagiert wird, da sie unserem heutigen Originalitätsanspruch nicht zu genügen scheinen. Aber selbstverständlich lastet auf den Schultern eines jeden Bearbeiters eines bedeutenden Werkes auch eine immense künstlerische Verantwortung. Idealerweise sollte eine Bearbeitung nicht nur die bloße Aufführung durch andere Instrumente ermöglichen, sondern gerade auch Facetten des Originalwerkes in einer Weise beleuchten, die mit der originalen Besetzung nicht zu erreichen wäre. Insofern stellt eine gelungene Bearbeitung immer auch einen interpretativen Akt gegenüber der Originalgestalt dar.
Wir beiden Streicher unseres Trios kannten und liebten die Streichsextette von Brahms selbstverständlich aus der praktischen Erfahrung vieler Aufführungen in der originalen Besetzung. Umso erstaunter und faszinierter waren wir alle drei, als wir Theodor Kirchners Bearbeitungen dieser Werke für Klaviertrio entdeckten. Weit davon entfernt, bloße Übertragungen in eine andere, hausmusikalisch geeignetere Besetzung zu sein, stellen sie aus unserer Sicht eine überaus geniale, eigenschöpferische Beleuchtung dieser Werke dar.
Ich muss dabei gestehen, dass es mir als Cellisten zunächst wenig erträglich erschien, den gesamten Anfang des in der Originalgestalt über weite Strecken vom 1. Cello getragenen 1. Satzes des B-Dur Sextetts ausschließlich dem Klavier zu überlassen. Erst als wir selbst begannen, hier alternative Möglichkeiten zu erwägen, wurde uns klar, wie außerordentlich überlegt und bewusst Kirchner die gesamte instrumentale Anlage seiner Bearbeitung gewählt hat. Die ersten 1o Takte des B-Dur Sextetts beispielsweise hat Brahms auf Anregung von Joseph Joachim erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt, wie Kirchner entweder wusste oder intuitiv ahnte. In seiner Instrumentierung bekommen diese Takte ihr Alleinstellungsmerkmal zurück, das Brahms in seiner Sextettfassung trotz der betont tiefen Lage der drei erklingenden Instrumente kompositorisch eher verschleierte.
In analytischer, nachschöpferischer Hinsicht leistet Kirchner in beiden Werken Erstaunliches, und trotzdem tritt uns zu jeder Zeit klanglich ein genuiner Klaviertrio-Satz entgegen, der nur in den seltensten Fällen seinen Bearbeitungscharakter offenbart. In der weiteren Beschäftigung konnten wir nur ein ums andere Mal bewundernd anerkennen, dass Kirchners künstlerische Entscheidungen immer auf einem tiefen Verständnis der Brahms’schen Tonsprache basieren und dass seine Bearbeitungen als vollgültige, interpretative Aneignung dieser einzigartigen Werke zu gelten haben.
© 2015 Martin Löhr (Trio Jean Paul)
Neue CD: Haydn Klaviertrios
C – d – e – fis: Diese vier Noten – und damit auch die Tonarten der hier eingespielten vier Klaviertrios von Joseph Haydn – formen die diatonische Ausschreitung des sogenannten Tritonus, des dissonantesten Intervalls der Musik seit Mittelalter und Renaissance. Er teilt die Oktave, das reinste Intervall und seit frühester Zeit Symbol der göttlichen Ein- und Reinheit, genau in zwei Hälften und zerstört so diese Einheit – daher auch seine Bezeichnung als Diabolus in Musica.
Haydns Musik als diabolisch zu bezeichnen, würde diese Analogie sicherlich überstrapazieren. Aber in seinem schwebenden, instabilen Auflösungsbestreben in die verschiedensten Richtungen steht der Tritonus hier für eine der ausgeprägtesten Eigenschaften der Musik Haydns: Elemente der Überraschung und der konstanten Irreführung der Erwartungshaltung der damaligen, musikalisch sehr gebildeten Hörerschaft. Oft möchte man ihm jedenfalls eine fast diabolische Freude unterstellen, seine Hörer in immer neuen Variationen Mal ums Mal ins „Bockshorn” gejagt zu haben. Gerade auf dem reinsten Gebiet der musikalischen Konversation – der Kammermusik – sticht Haydns Sinn für geistreichen Humor, für den richtigen Zeitpunkt einer unerwarteten Pointe besonders hervor. Sein unfehlbares Gespür für den momentanen Geisteszustand des Hörers, dessen Antizipation des Geschehens immer in der Schwebe gehalten wird, um ihm dann im richtigen Moment den finalen Kick zu versetzen, ist in der Musik der klassischen Wiener Klassik einzigartig.
Dennoch würde der Versuch, seine Musik auf nur diesen Aspekt zu reduzieren, selbstverständlich zu kurz greifen. Bei Haydn stehen tiefster Ernst und erhabenste, echteste Gefühle oft nahezu unvermittelt neben seinen florettartig funkelnden, geistreichen und humorvollen musikalischen Konversationen und Diskursen. Er erzählt Geschichten, deren Inhalten nachzuspüren für uns zum Reizvollsten unserer gemeinsamen interpretatorischen Arbeit gehört. Apropos Geschichten: Man weiß von Haydn, dass er sich für jedes geplante Werk vorher eine Geschichte ausdachte, diese auch aufschrieb, das inspirations- und sinnstiftende Werk dann aber nach Beendigung der Komposition vernichtete. Diese – den Interpreten und Hörern leider vorenthaltenen – Geschichten werden mit allen Feinheiten der musikalisch-rhetorischen Kunst erzählt – ein wichtiger Grund, warum l-Iaydns Musik von dem musikalischen Dreigestirn der Wiener Klassik am meisten unter dem lange Zeit vorherrschenden „romantischen Interpretationsstil zu leiden hatte. Ohne ein rhetorisches Verständnis wird die primär sprachbasierte Musik Haydns oft in zwar schöne, aber zusammenhangslose „lange Linien” gezwungen und dabei in ihrer diskursiven Sprengkraft verkannt – so entstand das verfälschende Bild des braven „Papa Haydn’. Seine Geschichten verlieren so ihren Sinn und ihre teils revolutionäre Aussagekraft. In seiner kompositorischen, stilistischen und besonders auch harmonischen Experimentierlust geht Haydn jedoch weit über das Vokabular beispielsweise Mozarts hinaus.
Die Moll-Werke überwiegen auf dieser CD. In ihnen zeigt sich am deutlichsten das oft übergangslos erscheinende Nebeneinander von innigster, ernster Aussage – meist in den Kopfsätzen und den langsamen Sätzen – und teils fast hemmungsloser Situationskomik in den ins Dur gewendeten Finalsätzen. Und trotzdem fügt sich das Ganze immer zu einer künstlerischen Einheit, die die Aussage der einzelnen Abteilungen transzendiert. Eine wichtige Ausnahme in Bezug auf die Dur-Moll-Dialektik der Finalsätze bildet das letzte Werk dieser Aufnahme, das Trio Hob.XV:26, entstanden 1795 während des zweiten Aufenthaltes des Komponisten in London. Mit der Widmungsträgerin Rebecca Schroeter, einer verwitweten Amateurpianistin, verband Haydn eine tiefe persönliche Beziehung, der auf Grund seiner bestehenden Ehe jedoch keine Zukunft beschieden war. In diesem einzigen „echten” Moll-Werk mit der vielsagenden Ausgangstonart fis-Moll versagt sich Haydn eine ins Positive gewendete Form. Die tragische Grundhaltung endet unerlöst in trotziger Resignation.
Die entscheidende Frage für uns Interpreten allerdings lautet: Wie bringt man Haydns Musik auf dem „modernen” Instrumentarium adäquat zum Klingen? Unsere heutigen, für die großen Konzertsäle optimierten Instrumente bringen einen grundlegend anderen Trioklang hervor, als Haydn bei der Komposition seiner Werke vorgeschwebt hat. (Was allerdings nicht nur für die Musik der Klassik gilt, sondern ebenso für die große Klaviertrio-Epoche der Romantik – auch Schumanns Klavier hatte beispielsweise, verglichen mit dem heutigen Konzertflügel, eine vollkommen andere Klangcharakteristik). Und dennoch sind es nach unserer Überzeugung letztendlich die Elemente der musikalischen Rhetorik, die Kunst der Artikulation und die Stilkenntnis der damaligen Aufführungspraxis, die den Inhalt und die Aussage der Haydnschen Musik auch auf heutigen Instrumenten zu entschlüsseln vermögen. Ein modernes Klaviertrio muss nicht ausschließlich „quasi-romantisch” klingen. Die Streicher können durch bewussten Einsatz des Vibratos entweder mit dem perkussiveren Klavier verschmelzen, oder sich von ihm klanglich lösen. Gemeinsam kann man sich auf die Spuren der alten Artikulationslehre begeben und das Sprechen’, das für die Musik der Wiener Klassik von so grundlegend elementarer Bedeutung ist, auch auf dem heutigen Instrumentarium wieder entdecken. Stilistische Wandlungsfähigkeit wird so zu einer spannenden Herausforderung bei der Suche nach den kompositorischen Inhalten.
Haydns Kunst ist immer zutiefst menschlich. Bei aller visionären Transzendenz steht das menschliche Schicksal in seiner Tragik und Komik gleichsam umfassenden Gesamtheit im Zentrum seiner Aussage. Den verschiedenen Erzählsträngen von Haydns Geschichten zu folgen, ihrem schier unerschöpflichen Erfindungsreichtum nachzuspüren, uns mit ihm klanglich zu verwandeln und immer wieder in die unterschiedlichsten Rollen zu schlüpfen, ist uns eine immense und stete Quelle der Freude und Inspiration.
© 2013 Martin Löhr (Trio Jean Paul)